Eisenhüttenstadt – Blick auf das Eisenhüttenkombinat Ost (EKO)

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"Zementierte Spaltung" - ein nd-Artikel
Wolfgang Kühn

29.11.2014 10:57:43

Die neuen Bundesländer haben die Folgen der Deindustrialisierung noch längst nicht überwunden. Nach wie vor sind die Einkommen und die Wirtschaftsleistung im Osten erheblich niedriger als im Westen. Die Kluft ist zuletzt sogar wieder größer geworden. 


Von Wolfgang Kühn 

Die Wende und die deutsche Einheit gelten als international einmalige Erfolgsgeschichte. Wie jedoch eine Vielzahl aussagekräftiger Fakten, Daten und Statistiken selbst aus offiziellen Quellen belegt, bleibt 25 Jahre nach dem Fall der Mauer die ökonomische und soziale Einheit Deutschlands immer noch in weiter Ferne. Wenn die deutsche Politik derzeit kontrovers über die Frage diskutiert, ob es nach 2019 noch einen Solidarpakt für die neuen Bundesländer braucht, so liegt die Antwort eigentlich auf der Hand: Der Osten ist weiter abgehängt, die Spaltung zementiert. Die hiesige politische Klasse hat der Bundesrepublik ein deutsches »Mezzogiorno« nach italienischem Muster beschert, das mit der gegenwärtigen Wirtschafts- und Sozialpolitik wenig Hoffnung vermittelt, innerhalb der nächsten Jahrzehnte in den Genuss des Verfassungsauftrags »gleichwertiger Lebensverhältnisse« zu gelangen.
So hat das ehemals hoch industrialisierte Thüringen, das mit Spitzentechnologien wie Carl-Zeiss-Jena oder mit Maschinenbaubetrieben ausgestattet war, nach den Berechnungen der EU-Statistikbehörde Eurostat aktuell die gleiche Wirtschaftskraft – gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner – wie die italienische Ferieninsel Sardinien. 
Die Entwicklung der Bundesrepublik im vergangenen Vierteljahrhundert vertiefte die soziale Spaltung. Die Abstände zwischen West und Ost in der Wirtschaftsleistung, bei den Löhnen und den Zahlungen zur Altersversorgung haben sich nicht verringert, sondern auf einem hohen Niveau stabilisiert – mit wenig Hoffnung auf eine Trendwende. Oder ein anderes Faktum: Im Jahr 2013 hat die Bruttowertschöpfung des Verarbeitenden Gewerbes in den neuen Bundesländern erst nahezu wieder das Niveau des Jahres 1989 erreicht. Mehr als zwei Jahrzehnte wurden also gebraucht, um den nach 1990 initiierten Absturz wieder aufzuholen. Dieses Dilemma wird mit einem historischen Vergleich drastisch: 25 Jahre nach Kriegsende, also im Jahr 1970, war es in keinem der beiden deutschen Staaten notwendig und üblich, über die Kriegs- und Nachkriegsschäden zu jammern oder einen jährlichen Bericht über den Stand der Beseitigung der Kriegsschäden zu publizieren.
Bei einer detaillierten Untersuchung der Entwicklung in den ostdeutschen Bundesländern nach 1991 wird die Fama vom kontinuierlichen »Aufbau Ost« widerlegt. Eine Schlüsselrolle für den Aufschwung einer Volkswirtschaft spielen die Ausrüstungsinvestitionen. Alle internationalen und historischen Erfahrungen belegen: Nach einem wirtschaftlichen Einbruch in dieser Größenordnung, gleichgültig ob durch Krieg, Krisen oder Naturkatastrophen, wird es immer erforderlich sein, die Ausrüstungsinvestitionen anzukurbeln und im großen Maßstab neue, modernere Produktionskapazitäten zu errichten. Mit ihnen wären neue und in der Regel produktivere Arbeitsplätze entstanden und so die vorhandenen Defizite bei der Wirtschaftskraft in den neuen Bundesländern Schritt für Schritt beseitigt worden. Das ist allerdings ausgeblieben – und diese Enthaltsamkeit rächt sich nun über die Jahrzehnte. Noch bedrückender ist das Faktum, dass nach dem Jahr 2000 die Kluft bei der Verteilung der Ausrüstungsinvestitionen wieder größer geworden ist. Damit bestehen nur wenig Chancen, eine aufholende wirtschaftliche Entwicklung in den neuen Bundesländern in Gang zu setzen. Das Ausbleiben eines raschen Ausrüstungsbooms im Osten hatte eine Vorgeschichte. Bereits im Verlauf der Jahre 1989 und 1990 startete in der Industrie der alten Bundesrepublik ein Investitionsboom mit jeweils jährlichen Zuwachsraten von zehn Prozent. Besonders in den Branchen der Verbrauchsgüter- und der Nahrungsmittelindustrie wurde auf diese Weise sehr früh die Übernahme der neuen Märkte in Ostdeutschland langfristig und strategisch vorbereitet. Es war unter diesen Bedingungen absehbar, dass ein weiterer Boom der Ausrüstungsinvestitionen für die angeschlossenen neuen Länder nicht mehr erforderlich war. Die im Westen der Bundesrepublik errichteten neuen Kapazitäten reichten für die Eroberung des nun zugefallenen neuen Marktes aus.
Diese Entwicklung blieb nicht folgenlos für die weitere wirtschaftliche und soziale Entwicklung in den neuen Bundesländern. Das Bruttoinlandsprodukt, gemessen an der Einwohnerzahl, gilt unter Ökonomen als Gradmesser für die Wirtschaftskraft einer Region. Hier hat sich der Rückstand der ostdeutschen Bundesländer im letzten Jahrzehnt sogar wieder vergrößert, sodass wenig Hoffnung besteht, diese Kluft in einem absehbaren Zeitraum zu beseitigen. Seit dem Jahr 2000 ist der absolute Rückstand der neuen Bundesländer sogar wieder größer geworden. Experten prognostizieren für die kommenden Jahre, bedingt durch die Überalterung und den damit verbundenen Rückgang der Einwohnerzahl, eine weitere wirtschaftliche Stagnation in den ostdeutschen Regionen.
Die Wirtschaftskraft einer Region bestimmt maßgeblich auch die persönlichen Einkommen. Pro Einwohner standen im Jahr 2012 in den neuen Bundesländern (ohne Berlin) durchschnittlich 17 618 Euro zur Verfügung, im früheren Bundesgebiet (ohne Berlin) waren es über 21 225 Euro. Die Differenz betrug also 3607 Euro. Auch hier hat sich die Kluft im letzten Jahrzehnt nicht verringert, sondern im Gegenteil um ein Fünftel erhöht, denn im Jahr 2000 betrug der Abstand nur 2960 Euro. Zu den Nettoeinkommen gehören die Einkünfte aus Arbeit und Vermögen plus alle Sozialleistungen wie Rente, Arbeitslosen- und Kindergeld, nicht enthalten sind Sozialbeträge und Steuern. Auch hier existiert kein Angleichungsprozess in der Bundesrepublik – sondern die Einkommen und damit die Lebensverhältnisse driften auseinander.
Noch brisanter wird die gespaltene Einkommenssituation, wenn regional tiefer gegliederte Daten untersucht werden. Dazu eignen sich die vorliegenden Daten der Nettoeinkommen je Einwohner in den insgesamt 406 deutschen Landkreisen und kreisfreien Städten, die allerdings nur für das Jahr 2011 vorliegen. Im Osten gelangten lediglich die Stadt Suhl mit einem Jahresnettoeinkommen von 20 076 Euro je Einwohner und der Landkreis Potsdam-Mittelmark (19 201 Euro) in die mittlere Einkommensgruppe. Beachtenswert in diesem Zusammenhang ist auch die wirtschaftliche Stellung der deutschen Hauptstadt. Im Gegensatz zu allen anderen europäischen Hauptstädten führt Berlin nicht die Rangliste der wirtschaftsstarken Regionen an, sondern befindet sich im unteren Mittelfeld aller deutschen Regionen. Paris, London, Wien, Warschau und Rom sind wirtschaftliche Kraftzentren ihrer Länder, Berlin ist es nicht.
Es gibt noch weitere Indizien für ein geringes Wirtschaftspotenzial in den neuen Bundesländern. In der Liste der 100 umsatzstärksten Unternehmen der Bundesrepublik im Jahr 2010 befinden sich nur vier Unternehmen aus Berlin. Die Deutsche Bahn AG auf Platz 19 dieser Liste hat ihren Hauptsitz erst auf Drängen der Bundesregierung vor einigen Jahren von Frankfurt am Main nach Berlin verlegt. Ansonsten haben nur ausländische Konzerne ihre deutschen Niederlassungen in der Hauptstadt. Dazu zählen der schwedische Energiekonzern Vattenfall auf Platz 35 der umsatzstärksten Unternehmen, der französische Ölmulti Total (Platz 50) und der russische Erdgasriese Gazprom. Wirtschaftsstarke deutsche Konzerne meiden Berlin als Sitz des Unternehmens, sie beschäftigen hier lediglich einige Lobby-Filialen. Mit ihrer niedrigeren Wirtschaftskraft kann die deutsche Hauptstadt im Gegensatz zur Vorkriegszeit nur geringe Wachstumsimpulse auf die umliegenden Nachbarregionen wie Brandenburg abgeben. In den neuen Bundesländern befindet sich von den 100 umsatzstärksten Unternehmen der Bundesrepublik nur noch das Unternehmen Verbundnetz Gas (VNG), eine in Leipzig ansässige Verteilungszentrale mit 50 Mitarbeitern. Alle anderen großen Unternehmen der Bundesrepublik sucht man in neuen Ländern und der Hauptstadt Berlin vergeblich. 

 Berlin-Ausgabe vom Samstag, 29. November 2014, Seite 21.

Von Wolfgang Kühn und Klaus Blessing ist gerade das Buch erschienen: Der Osten bleibt abgehängt. Die zementierte Spaltung, edition berolina, Berlin, 2014, 158 S., 9,99 €.

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