Erzählsalon vom 11.09.2017 mit Bilanzveranstaltung mit Iris Gleicke im Café Sibylle
Podiumsdiskussion zu dem Thema: Die Ostdeutschen ins Gespräch bringen
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich begrüße Sie sehr herzlich zu unserem heutigen Gedankenaustausch unter dem Titel „Die Ostdeutschen ins Gespräch bringen“. Vor fünf Jahren war die Tagung „Krise und Utopie“ der Auftakt für das wirtschaftshistorische Projekt „Kombinatsdirektoren erzählen“. Der Verein zur Förderung lebensgeschichtlichen Erinnerns und biografischen Erzählens, dessen Gründungsmitglied Professor Dietrich Mühlberg heute mit auf dem Podium sitzt, und Rohnstock Biografien luden frühere Leiter ostdeutscher Großunternehmen ein, über ihre Erfahrungen als Wirtschaftskapitäne der DDR zu berichten, nachdem sie fast fünfundzwanzig Jahre geschwiegen hatten. Die Tagung hatte den programmatischen Untertitel „Was heute aus der DDR-Planwirtschaft für ein zukünftiges Wirtschaften gelernt werden kann“.
Seitdem kamen führende DDR-Wirtschaftsfunktionäre aller Branchen Monat für Monat zusammen. Sie berichteten in über fünfzig Veranstaltungen sachkundig davon, wie kompliziert die Ausgangslage der DDR-Wirtschaft war, wie schwierig sich die Gratwanderung zwischen volkswirtschaftlichen, betrieblichen und sozialen Interessen gestaltete. Durch das kollektive Erzählen setzten sie sich den kritischen Einwänden der eigenen Zeitgenossen aus und korrigierten sich wechselseitig. Darüber hinaus luden wir auch Experten ein, die sich mit verschiedenen Aspekten des ostdeutschen Wirtschaftens befassten: Sozialwissenschaftler, Historiker, westdeutsche Wirtschaftskapitäne, Wirtschaftspolitiker. Wenn auch erst ein kleiner Teil des Erfahrungsschatzes der Wirtschaftskapitäne gehoben wurde, so sind doch Dutzende ihrer Wortbeiträge von Rohnstock Biografien inzwischen verschriftlicht und in Buchform herausgegeben worden. Diese Veröffentlichungen erfahren in den Medien sowie auf dem Buchmarkt eine erstaunliche Resonanz.
Nach fünf Jahren Projektarbeit erscheint nun eine Bilanz sinnvoll. Konnten brauchbare Anregungen für ein zukunftsorientiertes Wirtschaften herausgearbeitet werden? Hat die Arbeit des Projektes zu einem differenzierten Bild der DDR-Geschichte beigetragen? Wurden Defizite in der Biografieforschung ausgeglichen? Was haben wir geschafft und was bleibt noch zu tun? Genau darin liegt die Verwandtschaft mit dem „Projekt“, das die SPD-Politikerin Iris Gleicke ein Vierteljahrhundert nach dem Fall der Mauer als Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesminister für Wirtschaft und Energie übernommen hat: das Amt der Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer. Nicht von ungefähr ist es im Wirtschaftsministerium angesiedelt worden, stellt doch die Wirtschafts-, Investitions- und Innovationsförderung den Schwerpunkt ihrer Arbeit dar. Der in Iris Gleickes Auftrag erarbeitete „Atlas der Industrialisierung der neuen Bundesländer“ ist nicht nur eine gründliche Bestandsaufnahme, sondern mündet in wirtschaftspolitischen Empfehlungen, die mit den historisch gewachsenen Stärken der ostdeutschen Region rechnen.
Alle Fördermillionen sind vergeblich, wenn sie nicht an die Potenziale der Ostdeutschen anknüpfen! Das war die Empfehlung des Industrieatlasses. Das nahmen wir von Rohnstock Biografien zum Anlass, uns an Iris Gleicke zu wenden. Wir entwickelten das Konzept für „Lausitz an einem Tisch“ und schlugen es der Ostbeauftragten zur Umsetzung vor; sie unterstützte das innovative Projekt. So durften wir exemplarisch an fünf besonders gebeutelten Orten in der Lausitz Regionalentwicklung von unten anstoßen, indem wir die Menschen zum kollektiven Erzählen in Erzählsalons einluden, damit sie sich mit ihren Geschichten auch ihre Potenziale und Erfahrungen bewusst machen. Auf diese Weise lernten wir Iris Gleicke und ihre Crew sehr schätzen und hatten das große Vergnügen, sie bei der Abschlussveranstaltung im IBA-Studierhaus in Großräschen persönlich kennenzulernen. Wir konnten mit dem Projekt beweisen, dass der Erzählsalon als Instrument einer Regionalentwicklung von unten, wirkungsvoll funktioniert. Gemeinschaftlich gestärkt begannen die Menschen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Das daraus entstandene Buch dokumentiert die Entwicklung.
Wir freuen uns sehr, dass Iris Gleicke heute zu uns gekommen ist, um ihre Erfahrungen bezüglich der aktuellen ostdeutschen Situation und ihre Vorstellungen von einem zukunftsorientierten Wirtschaften zu erläutern. Das Projekt „Kombinatsdirektoren erzählen“ und die Arbeit der Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer gehen beide weit über die wirtschaftshistorischen und -politischen Absichten hinaus: Sie erstrecken sich über einen gesamtgesellschaftlichen Kontext und bieten Antworten auf eine Frage, die alle Menschen in den neuen Bundesländern betrifft: Wie bringt man die Ostdeutschen ins - gesamtdeutsche - Gespräch?
Dazu freue ich mich jetzt nicht nur auf den Bericht von Iris Gleicke, sondern ebenfalls auf die Bilanzen der anwesenden DDR-Generaldirektoren.
- Katrin Rohnstock -